Beitrag für die Zeitschrift "Spring ins Feld", Mai 2012
Stimmenhören verstehen
Das Maastricht-Interview – ein Instrument zur Erforschung der Stimmen und zum Empowerment von Stimmenhörerinnen und
Stimmenhörern
Stimmen hören – was meinen wir damit?
Stimmenhören ist eine besondere menschliche Wahrnehmungsform. Manche Menschen hören Stimmen, d.h. real gesprochene Worte, die nur sie selbst und kein anderer
wahrnehmen kann. Das ist eine ungewöhnliche, aber nicht so seltene Erfahrung. Neue Forschungen lassen vermuten, dass etwa 6% der Erwachsenen und 8% der Kinder Stimmen hören. Nur etwa ein Drittel
der StimmenhörerInnen haben Probleme aufgrund des Stimmenhörens, sodass sie deswegen psychosoziale oder psychiatrische Dienste aufsuchen müssen. Das bedeutet, dass es nicht zutrifft, dass
Stimmenhören immer ein Hinweis auf eine schwere psychische Krankheit ist. Stimmenhören kann krank machen, aber vielen stimmenhörenden Menschen gelingt es trotz und mit den Stimmen, ein gutes
Leben zu führen. Denn man kann lernen, Herr oder Herrin über die Stimmen zu werden.
Was ist das Maastricht-Interview?
Beim Maastricht-Interview handelt es sich um einen Fragebogen, der 1987 von einem Team von Wissenschaftlern in Maastricht (NL) für Forschungszwecke entwickelt wurde
und der nun in überarbeiteter Form in der Beratung von StimmenhörerInnen verwendet wird. Es hatte sich herausgestellt, dass er sehr gut geeignet ist, stimmenhörende Menschen in der Erforschung
ihrer besonderen Erfahrung zu unterstützen.
Ziel des Maastricht-Interviews ist, den Zusammenhang zwischen Stimmen und Lebensgeschichte aufzuspüren. Diese Suche geschieht gemeinsam mit der stimmenhörerenden
Person, womit bereits ein wesentlicher Unterschied zur üblichen Vorgangsweise in der Psychiatrie bezeichnet ist. Eine andere Differenz zur vorherrschenden medizinischen Praxis ist, dass es uns
nicht darum geht, die Stimmen zum Verschwinden zu bringen. Wir sind überzeugt, dass die Stimmen bedeutsam für das Leben der Stimmenhörenden sind. Sie sind aus vielerlei Gründen in ihr Leben
getreten. Wir nehmen die Erfahrung Stimmenhören aus der Psychopathologie und stellen sie in den Kontext der Lebensprobleme und der persönlichen Philosophie des Menschen. Die StimmenhörerInnen
werden dazu angeregt, eine Beziehung zu den Stimmen aufzubauen und sie als Teil ihres Lebens zu verstehen.
Die Arbeit mit dem Maastricht –Interview besteht aus drei Schritten:
Das Interview ist ein Mittel, um alle Aspekte der Stimmen aufzuzeichnen. Sehr detailliert wird gefragt nach der Art der Erfahrung, den
Eigenschaften der Stimmen, der Entwicklungsgeschichte der Stimmen, den Auslösern, dem Inhalt der Stimmen, den Interpretationen des Stimmenhörens, den Auswirkungen auf das tägliche Leben und den
Umgangsweisen mit den Stimmen.
Die gewonnen Daten werden in einem Bericht zusammengefasst, der mit der befragten stimmenhörenden Person besprochen und gemeinsam korrigiert und
abgestimmt wird.
Der letzte Schritt ist die Erstellung eines Konstrukts, in dem Hypothesen über den Zusammenhang von Stimmen und Lebensgeschichte formuliert
werden.
Das Vorgehen beim Maastricht-Interview ähnelt der Anleitung und der Begleitung zu einer Erkundungsreise über die Stimmen. Die StimmenhörerInnen werden ermutigt, die
Stimmen zu erforschen, sie genauer kennen zu lernen und in einen Dialog mit ihnen zu treten. Durch dieses detaillierte Erkunden lassen sich Hinweise auf Zusammenhänge zwischen Lebenserfahrung und
Stimmenhören und neue Strategien des Umgangs mit den Stimmen gewinnen.
Es geht nicht so sehr darum, warum der Klient Stimmen hört, sondern darum, wie wir sie begreifen können. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig, da sie zwei
verschiedene Einstellungen widerspiegelt. Die Frage nach dem "Warum" ist die Frage nach Ursachen und damit zwangsläufig der Endpunkt einer Diskussion. Im Fall des Stimmenhörens wissen wir, dass
die Antwort nicht einfach "eine Krankheit" ist. Die Frage nach dem "Wie" bedarf einer offeneren Erkundung, in der die StimmenhörerInnen selbst mehr involviert werden. Sie soll eine
Entdeckungsreise anregen. Es bietet sich an dieser Stelle auch an, weiter nachzuforschen, "mit wem" und "mit was" die StimmenhörerInnen Schwierigkeiten im Leben gehabt haben mögen. Ziel des
Konstrukts ist es, eine Kontinuität in der Lebensgeschichte wiederherzustellen, die durch das Auftauchen der Stimmen unterbrochen worden sein kann. (aus: Romme, Escher: Stimmenhören verstehen,
2008, S. 86)
Painting of Joan of Arc with her Voices by Eugene Thirion
Jeanne d'Arc , 1412-1431. Sie führte unter dem Eindruck von Visionen und Stimmen, die sie für gottgesandt hielt, die französischen Truppen zum Sieg über England.
Später wurde sie vom französischen Hof und dem Klerus im Stich gelassen, als Ketzerin verurteilt und verbrannt. Heute ist sie eine Nationalheilige Frankreichs und ihr 600. Geburtstag wird an
vielen Orten gefeiert.
Literatur:
Romme , Marius und Escher, Sandra: Stimmenhören verstehen. Der Leitfaden zur Arbeit mit Stimmenhörern. Bonn 2008 Psychiatrie-Verlag.
Romme , Marius, Escher, Sandra, Dillon , Jacqui u.a.: Living with Voices. 50 stories of recovery. Ross-on-Wye 2009, PCCS Books.
Information :
das Maastricht –Interview ist auf der Homepage von Monika Mikus zu finden:
http://www.mikus.at/own_domains/www.stimmenhoeren.info/Maastricht%20Interview.pdf
www.stimmenhoeren.info – die Homepage von Monika Mikus
www.stimmenhoeren.de – das deutsche Netzwerk Stimmenhören
www.efc-institut.de/ Angebot von Fortbildungen zum Thema
Stimmenhören
www.intervoiceonline.org/ dort ist mehr über den diesjährigen Stimmenhören-Weltkongress zu lesen.
verfasst von Marlene Weiterschan, Psychologin und Mitarbeiterin von Intervoice Oberösterreich/Netzwerk Stimmenhören, einem Projekt von Exit-sozial, April
2012.
Projekt Stimmenhören
EXIT-sozial, Verein für psychosoziale Dienste, Wildbergstraße 10a, 4040 Linz
Tel: 0699 / 171 884 80 (Mittwoch: 14.00 - 16.00 Uhr)
Email: stimmen@exitsozial.at
Fotos: www.photocase.com (Miss X und Susann Städter)