EXIT for future - Betrachtungen zum 40-jährigen Jubiläum

Zu diesem Anlass möchte ich nun persönliche Überlegungen anstellen, die auf meinen eigenen Erfahrungswerten mit dem Verein bzw. auf Erzählungen anderer Betroffenen und deren Angehörigen sowie von Exit-Mitarbeitern beruhen.

Vorab möchte ich auf jeden Fall „Danke“ sagen, dass es euch gibt und dass ihr so vielen Menschen, die am Abgrund stehen und schwere Krisen erleben, Hilfe und Unterstützung anbietet. Dass ihr so oft da seid und Gespräche anbietet, wo Not, Kummer, Krankheit und Sorge herrschen. Schon alleine, dass ein Mensch, der sich einsam, verlassen, zerstört und niedergeschmettert fühlt, weiß: Da gibt es jemanden, den es tangiert, der sich kümmert, dem es nicht egal ist, wie es mir geht – das kann alles bedeuten und alles verändern für diesen Menschen. Es kann seine innere Welt und sein Leben retten und ihm Mut und eine unendliche Hoffnung schenken. Also vielen Dank dafür!

Es gibt dennoch viele Bereiche, wo ich einen großen Entwicklungsbedarf sehe. Ich wünsche mir von den Mitarbeitern von Exit Sozial mehr Natürlichkeit und Offenheit. Oft erlebe ich, wie sich viele hinter ihrer professionellen Rolle verstecken und wenig bis kaum etwas von sich preisgeben. Meiner Erfahrung nach ist dieses „Sich-Einlassen“ und die eigene Authentizität grundvoraussetzend dafür, dass Nähe und Vertrauen entstehen können. Und diese sind notwendig, um jemandem aus meiner Sicht helfen zu können.

Für die Gruppenangebote wünsche ich mir darüber hinaus, dass der Fokus nicht nur auf Problemen, sondern vor allem auf Bewältigungsstrategien und auf die Stärken und Ressourcen der Klienten gerichtet wird. Und dass auch hier abgehobene Fassaden einer Gleichstellung und Begegnung auf Augenhöhe weichen.

Das Thema „Selbstwert“ sollte meiner Ansicht nach im Vordergrund des therapeutischen Angebots stehen. Die Fragen: „Wie kann ich meinen Selbstwert stärken, damit ich mit den Herausforderungen des Lebens stabil und ausgeglichen umgehen kann?“, oder „Welche Einstellung dem Leben gegenüber, bewirkt, dass der Drang, zu bewerten, abnimmt und der Hang, mich selbst abzuwerten, aufhört?“ sind immanent. Durch die Nutzung vieler psychosozialer Angebote wurde mir bewusst, dass fast immer ein zu geringes Selbstwertgefühl das Leiden auslöst, das Gefühl, nicht gut genug zu sein, nie wütend sein zu dürfen, erniedrigt zu sein,… Sich selbst Wertschätzung und Respekt entgegenzubringen, ist aufgrund von verschiedenen Erfahrungen oft nicht möglich. Umso wichtiger ist es , dass dieser so persönliche, private, sensible Bereich aufgebaut wird.

Auch empfinde ich es als sehr wichtig, dass die Politik in Österreich ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stellt, damit das psychosoziale Angebot dem Bedarf in unserer Gesellschaft angepasst werden kann und auch erweitert werden kann.

Hilfreich für mich und vielleicht auch für viele andere wären zum Beispiel die Gründung einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Psychose-Erfahrung, ein Stimmenhören-Notruftelefon, das rund um die Uhr erreichbar ist, eine Psychodramagruppe, eine Wahrnehmungsgruppe und mehr Angebote zu den Themen „Kunst und Kreativität“ sowie „Meditation“.

Außerordentlich bestärkend und zutreffend sehe ich den Leitspruch auf der Exit-Homepage: „Es ist normal, besonders zu sein.“ Diese Haltung und besondere Begegnungen in meinem Leben haben mir das Bewusstsein ermöglicht, dass ich kostbar und wertvoll bin, genauso wie ich bin, unabhängig davon, wie ich aussehe, was ich leiste, ob ich einer bezahlten Tätigkeit nachgehe, welche Rasse und Hautfarbe ich habe, welche religiöse und politische Gesinnung ich lebe, …

Für mich ist es so bedeutsam, diesem menschenfreundlichen und liebevollen Ideal entgegenzustreben, auch wenn es nicht immer leicht ist. Es ist wunderbar, dass Exit Sozial diese Mentalität als Slogan für den gesamten Verein heranzieht und zum Teil auch verinnerlicht und lebt. 

Als lohnendes Beispiel revolutionär voranzuschreiten, geistig vorzupreschen, Vorurteile zu beheben und bestehende gesellschaftliche Systeme und Werte, die veraltet, unmenschlich und überholt sind, in Frage zu stellen, in der Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit, da orte ich ebenso einen Auftrag und ein weiteres Entwicklungsfeld von Exit Sozial.

Des Weiteren habe ich oftmals den Eindruck, dass viele Mitarbeiter von Exit Sozial sich überlastet und demotiviert fühlen, dass der innere Schwung und der Elan abhandengekommen sind und vieles eine Verpflichtung und eine Last ist, was eine Freude sein könnte. Warum so viele ausbrennen und kein Engagement für neue Projekte, die so wichtig für die Entwicklung sind, haben, diesem Thema sollte auf den Grund gegangen werden. Ich glaube, dass auch hier die wahrhaftige Begegnung mit den Klienten die zentrale Auseinandersetzung sein kann, weil das Einnehmen einer künstlichen Rolle eventuell nicht wirklich glücklich machen kann.

Der nächste Punkt, der mir erwähnenswert erscheint, ist die psychiatrische Behandlung der Patienten in der Ambulanz. Meiner Auffassung nach braucht nicht jeder psychisch kranke Mensch Medikamente und nicht jeder kommt ohne Medikamente aus. Ich sehe es als unumgänglich, wenn man jemandem helfen will, dass man versucht zu eruieren, was dieser Mensch individuell braucht. Im Krankenhaus bekam ich immer automatisch Medikamente. Diese arrogante Vereinheitlichung und Gleichmachung der Bedürfnisse von Patienten sehe ich sehr kritisch. Niemand „produziert“ eine psychische Krankheit, es gibt dafür Ursachen und Hintergründe, die einer gründlichen Beleuchtung und Bearbeitung bedürfen. Und dabei nicht zu vergessen, dass der Patient autonom und eigenständig ist, in ihm selbst ist die Antwort auf sein Dilemma begraben, nicht in irgendwelchen theoretischen Analysen oder Erwägungen. Es ist unverzichtbar, dass er sich die Lösung für sein Problem selbst miterarbeitet. Und dabei seine besonderen Fähigkeiten erkennt …

Ein Mensch, der psychisch außergewöhnliche Phänomene erfährt, muss nicht zwingend krank sein. Ich fordere eine Abkehr von der Definition und der Betonung des Krankhaften hin zu einer Zuwendung zum Potential dieses Menschen. In anderen Kulturkreisen werden psychisch auffällige Menschen oft ganz anders betrachtet, ihr Instinkt, ihre Weisheit und Reife werden oft besonders geschätzt, sie werden oft als übersinnlich begabt angesehen. Sobald man in unserer Gesellschaft als nicht arbeitsfähig eingestuft wird, gilt man meistens als beeinträchtigt, krank und behindert. Es ist sicherlich so, dass viele dieser Menschen einen enormen Leidensdruck haben und die Tatsache, dass sie meistens noch um ihre finanzielle Sicherheit bangen müssen, macht ihren Zustand nicht vorteilhafter. Hinzu kommt, dass viele, sobald es ihnen besser geht, um ihr Geld fürchten müssen, wenn sie zum Beispiel längere Zeit nicht im Krankenhaus waren, der Anspruch wird bei einigen jährlich kontrolliert. Es kann nicht sein, dass man hoffen muss, dass es einem psychisch schlechter geht, nur damit man nicht in die Armut gerät, das ist wohl eine grausame Methode, um Leute zu knechten, in die Knie zu zwingen und in der Leidensspirale zu behalten. Das seelische Wohlbefinden zu erreichen, sollte doch das Ziel sein, auch wenn dieser Mensch, vielleicht weil er in seiner eigenen speziellen Welt lebt, nicht arbeitsfähig ist. Darum plädiere ich für ein bedingungsloses Grundeinkommen, um von diesem Zwang, dass wir unser Leben erhalten müssen, wegzukommen hin zu der Freiheit, das Leben zu genießen und einen Beitrag beizusteuern. Hier wünsche ich mir von Exit Sozial eine eindeutige Stellungnahme.

Besondere Vorsicht ist auch in forensisch betreuten Wohngemeinschaften angebracht. Niemand sollte über jemanden urteilen oder sich das Recht herausnehmen, sich darüber zu stellen und Macht auszuüben, denn das ist der Nährboden für die Entstehung von Willkür und Bösartigkeit. Tief im Inneren will, glaube ich, keiner einem anderen so begegnen, doch nur allzu oft verirren sich Menschen, stumpfen ab. Diese Tendenz muss erkannt und transformiert werden.

Die Wertschätzung und der Respekt, die Freundlichkeit und Empathie, die viele Exit-Mitarbeiter für mich ausstrahlen – vom Reinigungspersonal bis hin zur Geschäftsleitung, sind sehr inspirierend, nachahmenswert und häufig anderswo selten auffindbar. Diese Einstellung verdeutlicht, dass jeder Mensch ein lebenswertes Leben verdient hat.

Ich wünsche mir für die Zukunft, dass Exit Sozial weiterhin genau für dieses Ziel arbeitet und nach außen hin klare Akzente setzt, die revolutionäre Courage zeigt, auch unpopuläre Meinungen zu vertreten und sich für neue Perspektiven öffnet. 

Herzlichen Glückwunsch zum 40-jährigen Jubiläum von meiner Seite, alles Gute und viel Erfolg für diese sehr verantwortungsvolle Aufgabe und lohnenswerte Tätigkeit!

 

Liebe Grüße, Barbara Koller

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