Ich befinde mich augenblicklich wieder in einer Krise. Die Flucht in meine Phantasielandschaft gelingt mir kaum mehr, die positiven Stimmen, in denen mein Selbstwert gebündelt war, höre ich sehr selten. Der Vorteil daran ist, dass ich mich mehr erden konnte, mich selbst mehr spüre.
Dennoch ist es für mich sehr schwer auszuhalten, dass nun all die schwierigen Emotionen, die ich all die Jahre in einer Art Selbstgeißelung abgewürgt habe, nun dauernd hochschwappen. Ich werde von Gefühlen wie Wut, Hass, Neid, Eifersucht und Gier geradezu übermannt und hasse mich selbst dafür noch umso mehr. Hinzu kommt der Drang, Beziehungen zerstören zu müssen, den Kontakt zu anderen abzubrechen. Diese Tendenz kenne ich schon seit meiner Kindheit, mein Krankheitsbild weist definitiv Züge einer Borderline-Störung auf. Meine Zerstörungswut bezieht sich immer auf Menschen, die mir besonders nahestehen und mich wirklich lieben und die ich liebe. Der Fähigkeit dieser Personen, mich so lieben zu können, fühle ich mich dann derart unterlegen, dass es zu Hassgefühlen kommt, da ich den anderen unbewusst idealisiere. Weiters sehe ich mich einem inneren Kampf von Macht und Ohnmacht ausgeliefert, da ich einem anderen so viel bedeute, dass ich ihn verletzen oder sogar zerstören kann. Und gleichzeitig ein verheerend schlechtes Gewissen wegen dieser Gefühle und der Wunsch, genau diese Menschen am meisten zu beschützen vor Leid und Schmerz. Ich glaube, das Bedürfnis, zerstören zu müssen, entsteht aus einer Wahrnehmungsstörung und einem Minderwertigkeitsgefühl, ich befürchte, es nicht wert zu sein, so geliebt zu werden. Schon allein bei der Vorstellung, einen anderen zu zerstören, verletze ich mich selbst seelisch. Ich bin in einem unaufhörlichen Gefühl von Entweder-Oder bezüglich Hass und Liebe, Nähe und Distanz, die seelische Anspannung und die Schwankungen sind enorm. Ich verhalte mich des Öfteren so drastisch abweisend, weil ich spüren will, dass der andere um mich kämpft, dadurch dass ich verletze, fühle ich, wie sehr mich der andere liebt. Obwohl ich diese Liebe nicht zulassen kann, weil ich sie nicht gewohnt bin. Und ich bin süchtig danach, intensive Gefühle zu spüren, diesen ständigen Aufruhr zu erleben, auch wenn er mich noch so sehr quält. Obgleich ich tatsächlich fliehen möchte in meine Traumwelt, ist jetzt die Gelegenheit da, mich meinen Dämonen zu stellen und meine Menschlichkeit akzeptieren zu lernen.
Nach so vielen Jahren Selbstunterdrückung ist es an der Zeit, die Beziehung zu mir selbst zu nähren und damit auch meine innere Schönheit fernab von Größenwahn und Selbstüberschätzung neu zu entdecken. Ich möchte lernen, meine Aggressionen nicht mehr unter der Oberfläche zu knebeln, sondern sie konstruktiv auszudrücken und mich nicht mehr deswegen verurteilen zu müssen.
Ein weißes Kleid als scheinbar „weiße Weste“?
In vielerlei Hinsicht erzählt der Film „Muriel’s Hochzeit“ die Geschichte meines Lebens. Die Lieblosigkeit und die Abwertungen und Herabwürdigungen im Elternhaus, die Einsamkeit, die Trostlosigkeit, die Unzufriedenheit mit mir selbst und gleichzeitig die Rebellion gegen bestehende Werte und Institutionen, denen ich mich aus Protest durch Abwesenheit physisch und mental entzog. Hinzukommend stellte ich mir immerzu vor, dass irgendwann alles ganz anders sein würde, dass ich nicht mehr wertlos sein würde, sondern beruflichen und privaten Erfolg haben würde, worüber ich mich durch meine Erziehung und durch gesellschaftliche Prägungen leider definierte. Darüber hinaus das Abtriften in die Phantasie mit Musik und Filmen, um mein Leben irgendwie zu ertragen. Und irgendwann diese Filmetraumwelt in all ihrer Pathetik und Künstlichkeit für Realität zu halten …
Mein letztes Buch „Das Universum in meinem Herzen“ beinhaltet ein Gedicht mit dem Titel „Schneewittchen“, in dem ich ausführlich darlege, wie sehr ich mir immer ein weißes Kleid gewünscht habe. Auch ich bin in Brautmodensalons gegangen, um mir die Kleider anzusehen.
Ich dachte, wenn ich es schaffen würde, dass der damalige Mann meiner Träume mich lieben und heiraten würde, dann wäre ich endlich etwas wert. Ich wollte keine eigene Identität haben, sondern Teil einer anderen sein durch Beziehung. Wenn man sich solchen Illusionen hingibt, zieht man ausschließlich Illusionen an Bord. Mittlerweile bin ich diesbezüglich glücklicherweise ein wenig realistischer geworden.
Jetzt sage ich mir: „Ich brauche niemanden, um gut zu sein. Ich will mir selbst genug sein.“
Der Retter in dir
Zu glauben, dass es einen Menschen gibt, der es immer gut mit einem meint, der immer gerecht und wohlwollend ist, kann erfahrungsgemäß nur in einer beträchtlichen Enttäuschung enden.
Jeder darf für seine Rechte selbst kämpfen, sich selbst behaupten, sich auf sich selbst verlassen. Ich weiß das, zumal ich mein Leben oft voller Vertrauen und Gutgläubigkeit und aus Mangel an Selbstverantwortung in die Hände anderer gelegt habe und die Folgen teuer bezahlt habe. Auf diesem Pfad kann man nur verletzt werden, weil man sich selbst nicht schätzt, sondern verletzt.
In einer Art melodramatischen Besessenheit lief ich meinen Auserwählten keuchend hinterher, als ob ich um mein Leben laufen müsste, als ob dies meine einzige Chance wäre, glücklich zu werden. Mir war alles andere egal. Und zugleich wollte ich diese unwiderstehliche, unerreichbare Blondine sein, der alle anderen hinterherlaufen …
Ja zu mir sagen
Ich glaube, die Liebe kreuzt den Weg eines Menschen, wenn sie ihn für würdig erachtet.
In jeder Schwierigkeit, in jeder Herausforderung liegt eine bahnbrechende Chance, nicht mehr so weiterzuleben wie bisher, zu erkennen, was das eigene Leben und die Lebendigkeit zersetzt und einen Unterschied zu machen. Mit der Entscheidung zur Lebenseinstellung, glücklich zu sein, jetzt in diesem Augenblick, ungeachtet der Umstände, ziehen wir das Glück magisch an. Immer in dem bewussten Vertrauen, dass alle aktuellen Begebenheiten maßgeschneidert und perfekt sind, um sich am besten entwickeln zu können.
Sätze wie „Du bist, was du isst“, „Man erntet, was man sät“ oder „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“ unterstreichen das Ursache-Wirkung-Prinzip. Auch wenn das nicht bedeutet, dass der Selbstwert gleich da ist, aber ab der Entscheidung, ja zu sich zu sagen, kann ein Prozess in Gang kommen, es kann etwas wachsen, gedeihen, heranreifen und entstehen.
Perfektionismus verhindert Selbstwert
Der Selbstwert ist angesichts der Prioritäten, die in unserer Welt vermittelt werden, ein ewiger Prügelknabe und Fußabtreter. Wenn wir uns mit angeblichen Gewinnern, den Reichen, Schönen und Erfolgreichen vergleichen, verringert sich der Selbstwert bei den meisten immer mehr. Fatal sind auch die Festlegungen, was als normal und was als abnormal eingestuft wird. Wirklich problematisch wird es zumeist, wenn Menschen andere verurteilen und sie für ihre Ecken und Kanten, gleichsam für ihre Abgründe mit Abneigung und Angewidert-Sein strafen. Oftmals sind solche Menschen sehr in der Selbstkontrolle, sind extrem streng zu sich selbst und folglich auch zu anderen und übersehen dabei, dass ihre Reaktion auch eine Form von emotionaler Härte ist. Leider stehen viele Menschen einem Kontrollverlust verständnislos gegenüber. Es gibt Menschen, die sind realistisch genug, um zu wissen, dass Menschen so genommen werden dürfen, wie sie sind, wohingegen andere immer jemanden verändern oder verbessern wollen. Weniger schubladisieren und kategorisieren, anderen Menschen vorurteilsfrei zu begegnen, ist ebenso für mich erstrebenswert. Dabei sollte sich keiner für sein Innenleben schlecht, beschämt oder schuldig fühlen müssen, alles, was in uns ist, darf sein und sollte wertfrei angesehen werden. Jeder hat das eindeutige Recht auf seine Individualität, die ihm niemand streitig machen kann.
Den Fähigkeiten eine Bedeutung geben
Etwas schaffen zu können, eine Aufgabe oder einen Traum zu erfüllen, kann Selbstwert geben; Wahrheit ist etwas sehr Individuelles, jeder hat seine eigene Wahrnehmung und Wahrheit, seine eigene Sicht der Dinge. Diese kann Sicherheit, Struktur und Halt geben und das wiederum Selbstwert.
Ich glaube, wir alle kennen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Selbstwirksamkeit, danach, unsere Sinnstiftung in dieser Welt zu finden. Sich selbst verwirklichen zu können und ein klares Bild von der eigenen Rolle im Leben zu entwickeln, können wie eine Psychotherapie für den inneren Kritiker sein.
Bitte geniert euch nicht für eure Andersartigkeit und Exzentrizität oder für Emotionen, sondern feiert sie!!
Wir dürfen auch schrill, verrückt und chaotisch sein, müssen nicht geordnet, gesetzt und zugeknöpft sein.
Ob Sonnenstern, Urwaldstadtgans, oder Lumpenroyal? Je ungewöhnlicher, desto bunter.
Je weniger Vorurteile, desto mehr Möglichkeiten. Je mehr Selbstliebe, desto mehr Liebe.
We are all worth it!!!
Es ist jedenfalls alles in uns, was wir brauchen, um psychische Gesundheit zu finden. Tief in uns drinnen sind wir alle heil und ganz.
In diesem Sinne wünsche ich mir und allen anderen, die sich danach sehnen, dass wir uns selbst Anerkennung und Wertschätzung geben können, für alles, was wir sind.
Nichts in uns ist zu gering, es ans Herz zu nehmen, es zu umarmen und ihm in der eigenen Seele Herberge oder sogar Heimat zu geben.
Ich sende euch meine Anteilnahme und grüße euch ganz herzlich!
Barbara Koller
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Sarah (Mittwoch, 27 April 2022 13:57)
Sehr schöner und ausführlicher Beitrag, liebe Barbara! Ich finde mich, vor allem beim Idealisieren der Menschen, wieder. Aufgrund meiner Borderline-Störung sehr nachzuvollziehen. Die Gefühlsschwankungen und sonstiges, sind mir ebenfalls sehr vertraut. Ich bin sehr froh, dass ich durch dich wohl jemanden gefunden habe, der ebenfalls eine so tiefe Liebe in sich trägt. Du sprichst mir aus der Seele und ich freue mich über den Blog nun gestolpert zu sein. Es ist, wie es ist. Es sollte genau so sein, dass sich jetzt unsere Wege (wieder) kreuzen und dafür bin ich sehr froh, weil ich in dir jemanden sehe, der sehr bemerkenswert mit sich und all den Erfahrungen umgeht. Ich wünsche Dir alles Liebe und freue mich auf den nächsten Blog Eintrag. Liebe Grüße
Barbara (Mittwoch, 04 Mai 2022 19:53)
Hallo Sarah!
Danke für das bereichernde Feedback. Es ist auch für mich immer wieder spannend, zu sehen, wie ähnlich wir doch alle trotz der Unterschiedlichkeiten und unser aller Individualität sind. Geteiltes Leid kann eben wirklich halbes Leid sein, denn die Unterstützung und das Verständnis von anderen kann große Hoffnung spenden. Es ist für mich auch so super, beim Schreiben Worte für beinahe undefinierbar scheinende Zustände zu finden. In die Tiefe zu gehen, ist fast schon eine Passion für mich geworden. Danke liebe Sarah, ich freue mich , wieder von dir zu hören.
Liebe Grüße,
Barbara