Stimmenhören in Krisen – mein Weg aus dem Tief

 

Während meiner Studienzeit, noch bevor ich Stimmen hörte, war ich in einem Isolations- und Ohnmachtsgefühl gefangen, hatte eine Depression.

 

Wie ich im Jänner-Blog „Stimmenhören, Liebe und Sexualität“ berichtet habe, flüchtete ich mich in einen Liebeswahntraum.

 

Ich baute mir schon damals eine Parallelwelt auf, sie beherrschte mich ständig und ich hielt sie für Realität. Ausgelöst durch ein Trauma, klinkten sich irgendwann die Stimmen ein und ein bedrohlich-gefährliches Szenario begann. Denn da ich mich von den Stimmen nicht abgrenzen konnte, glaubte ich ihnen alles und sie konnten mich herumkommandieren und verängstigen, wie sie wollten.

 

Ich verlor mich dabei, war fremdbestimmt, es war der absolute Horror. Wenn die Stimmen dir einreden, du könntest alles machen, was du wolltest und es könnte dir nichts passieren, weil du übernatürliche Kräfte hättest, dann ist das sehr heikel und gefährlich.

 

Was mir half, war mein standfester, unzerstörbarer Überlebenswille und meine Hoffnung, Liebe zu finden. Ich spürte so einen Überschwang an Emotionen und eine unendliche Sehnsucht. Sie war mein Rettungsanker, dafür bin ich wirklich dankbar. Ich dachte mir, wenn ich so sensible, verletzliche Emotionen spüren konnte, konnte ich nicht so furchtbar und grausig sein, wie die Stimmen es behaupteten. Und irgendwann gelang es mir letztendlich, diesen Teufelskreis aus Schuld, Argwohn und Angst zu überwinden.

 

 

 

Ich habe eine fiktive Kurzgeschichte geschrieben, in der es darum geht, wie durch unangenehme Geschehnisse die Stimmen auftauchen können und aus einer „Kleinigkeit“ eine ernstzunehmende Krise wird. Wie es die Stimmen immer wieder schaffen, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen und sich selbst dabei wie Elefanten im Porzellanladen zu benehmen …

 

Knopflos durch die Nacht

 

Ohne ein Ziel vor Augen zu haben, irre ich durch die Straßen und Gassen.

 

Tagsüber war es heute sehr heiß, doch die Sommernacht ist lau und windig.

 

Dennoch fühle ich mich so hitzig, dass ich mir wünschte, ich könnte ein paar kühle Regentropfen auf meiner Haut spüren. Ich sehe hinab auf meine Kleidung. Ein Knopf meiner Bluse fehlt.

 

Wie kann das nur möglich sein, hab‘ ich ihn unbewusst verloren?

 

Ich laufe noch weiter, der Asphalt gibt auch nachts so viel Wärme ab, dass mir die Temperatur zu Kopf steigt. Plötzlich macht es „klopf, klopf“ – ein paar Regentropfen als Gnade.

 

Knopf, Knopf, wo bist du nur?

 

Das Loch, das durch den fehlenden Knopf entstanden ist, gewährt ungewollte Einblicke in mein Dekolletee. Auf einmal kommen ein ausländisch aussehender Mann und ein österreichisch wirkender Mann auf mich zu.  „Hey du da, gehen wir auf Café?“, fragt mich der Ausländer.

 

„Nein, danke.“, antworte ich, „das möchte ich nicht.“

 

„Ach komm schon, hab dich nicht so!“, erwidert der Österreicher.

 

Dann gehen sie weiter. Ich höre, wie der Österreicher sagt: „Zieht sich an wie ne‘ Schlampe und macht dann einen auf Prinzessin „Rühr mich nicht an“.

 

Ich beginne zu schreien. Knopf, Knopf, wo bist du nur geblieben? Kropf, Kropf.

 

Mit einem Mal fährt ein zischender Wirbelwind mir durch Seele und Geist und ich höre meinen verhassten Stimmenmann wieder.

 

Er schimpft: „Du dumme, blöde scheiß Dreckshurensau, es hassen dich alle unendlich. Du wirst heute noch tausende Male vergewaltigt und umgebracht werden. Sie verfolgen dich!“

 

Ich drehe mich um, aber es ist niemand da. Mir tut mein ganzer Körper so weh, der Weg ist so weit.

 

Meine nassgeschwitzte Bluse klebt auf meiner Haut und ich wünschte wirklich, es würde schütten und all den Schweiß, die negativen Gedanken und die Beschämung hinfort waschen.

 

Ich fühle mich so gedemütigt und bloßgestellt, obwohl ich weiß, dass die Stimme lügt.

 

Die Häuserfassaden leuchten krass bis verblassend.

 

Der Dämon bäumt sich auf: „Hey du dumme, kleine Hure, alle Männer wollen dich und alle Frauen sind eifersüchtig auf dich, das ist doch das, was du hören willst, oder? Aber das will ich überhaupt nicht hören, ich schreie wieder. Danach schließe ich die Augen.

 

 

 

Nach einer Weile mache ich die Augen auf und sehe, dass sich rund um mich herum eine Schar voll Menschen gebildet hat. Als ich mich umsehe, bemerke ich, dass ich mich am Hessenpatz bei der Bushaltestelle befinde. Beim Hinunterblicken fällt mir auf, dass ich nur Unterwäsche trage, meine Kleidung liegt zerrissen auf dem Boden. Die Knöpfe liegen, allesamt abgerissen daneben. Ich berühre einen Knopf voller Schmerz und Wehmut in meinem Herzen.

 

Eine ältere Frau spricht mich an und meint besorgt: „Sie haben die ganze Zeit mit sich selbst geredet, sich die Kleidung vom Leib gerissen, gekreischt und geweint. Sollen wir die Rettung für sie rufen?

 

Kein einziger Knopf mehr, der meine Kleidung und mein Gehirn zusammenhält.

 

„Ich wünschte, mir würde der Knopf hinsichtlich der Realität und meines Selbstwertes aufgehen“, murmele ich schwindelig, niedergeschmettert und durcheinander.

 

Es beginnt in Strömen zu regnen …

 

 

 

 

Heute versuche ich mir zu sagen, dass die Stimmen da sein dürfen, aber nicht mein Leben dirigieren dürfen, ich bemühe ich mich sehr darum, die Situation zu akzeptieren, dass ich Stimmen höre.

 

In Momenten, in denen ich mich von den Stimmen kleingemacht fühle, erinnere ich mich gerne an alles, was ich in meinem Leben schon geschafft habe. Ich habe mir auch in Phasen, in denen es mir gut ging, eine Liste geschrieben, was ich alles an mir schätze und worauf ich stolz bin.

 

Meine Stimmung hängt in hohem Ausmaß von der Beschaffenheit meiner Gedanken ab. Wenn ich mich in allzu beunruhigenden Gedankengängen verheddere, mich total ins Negative hineinsteigere, werde ich schnell mal zur Drama-Queen. Natürlich ist das auch mal o.k., aber auf Dauer klarerweise ziemlich anstrengend und zermürbend.

 

Manchmal gelingt es mir, mich bei diesem Prozess zu beobachten und Stopp zu so einigen gedanklichen Ausrutschern zu sagen und gar nicht erst auf das Drama einzusteigen. Denn aus Gedanken werden des Öfteren Gefühle und Handlungsweisen.

 

Ich habe mich entschieden, dass ich glücklich sein möchte und meinen Fokus auf das Schöne lenken möchte.

 

Stimmenhören – eine Sintflut

 

In der Krise fühle ich mich zerteilt in Emotionen, die starr voneinander abgetrennt sind.

Es gibt keine Symbiose, kein Einssein mit all meinen Anteilen.

Die Stimmen verkörpern Extreme, die wie eine überirdische Naturgewalt über mich hereinbrechen.

Wenn die Psychose akut ist, sind auch die Stimmen bei mir am Überkochen.

Die dubiose Suppe, die sie mir brauen und mischen reicht von der vollkommensten

Liebe bis hin zum abgrundtief Hässlichsten.

Beide Stimmen kämpfen an vorderster Front, um die Oberhand über meine Sichtweisen, Glaubensmuster, Vorstellungen und Verhaltensweisen zu gewinnen.

Dennoch gehen sie Hand in Hand, denn sie bedingen einander.

 

Nie habe ich mehr geliebt und nie war ich mehr verzaubert, als in den Momenten, als das Fass, angefüllt mit einer Unfassbarkeit an Schmerz, Hass, Angst und Abscheu, am meisten am Überlaufen war.

 

Das Bedürfnis, all das Schreckliche meiner Psychosen und meinen Verfolgungswahn auszugleichen und mit meinen Stimmen davonzuschweben, diese unendliche Sehnsucht bewog mich dazu, mich unentwegt hinwegzuträumen und mich der Realität zu entziehen.

 

Die Realität empfand ich nur als grausam und bedrohlich, dieses Gefühl entsprach meiner negativen Stimme, die diesen Zustand stets untermauerte und unterstrich.

 

Meine imaginäre Vorstellungskraft hingegen war der einzige Halt, der mich überleben ließ. All die Hoffnung und der Glaube an das Wunderbare, meine Traumwelt und die damit verbundene Meditation wurden und werden von meinen liebevollen Stimmen ausgelöst.

 

Dennoch spiegelt es auch ein Gefangensein in meiner Innenwelt wider, es isoliert und hat ebenso etwas Melancholisches, wenn ich mich nur auf die Stimmen konzentriere.

 

Ein wilder, ungezähmter Redeschwall von dem ich bombardiert werde, der wie eine Sintflut auf mich einströmt.

 

Und auf der anderen Seite, Stimmen von einer unendlichen Zartheit und Anmut, die leise und unaufdringlich liebsäuseln.

 

In meinen schlimmsten Krisen war ich jahrelang in psychotischen Zuständen verschollen. Ich verhielt mich abweisend, ängstlich, angriffslustig und aggressiv gegenüber meiner Umgebung.

 

Ich war starr vor Angst, fühlte mich in Bezug auf sie hilflos und ausgeliefert.

 

Meinen positiven Stimmen gegenüber war ich anhänglich, liebevoll und verträumt.

 

Geholfen, meine Krisen zu überwinden, haben mir andere Mitmenschen, die mich berührten, mich zum Nachdenken brachten und verwandelten.

 

Mitpatienten halfen mir und Menschen, die ihre professionelle Rolle überwanden und authentische Gefühle zeigten, wirklich auf mich eingangen, ohne sich über mich zu stellen.

 

Diese Natürlichkeit schätze ich sehr, aber ich vermisse sie meistens auch sehr.

 

Wenn die Bediensteten im Krankenhaus sich hinter abgehobenen, künstlichen Fassaden verstecken und die Behandlung nicht auf Augenhöhe und in liebevoller Menschlichkeit passiert, kann man mir nicht helfen. Diese Erfahrung habe ich gemacht.

 

Stimmenhören in Krisen war das Schönste und das Furchtbarste, was mir je widerfahren ist.

 

Ich habe diese Erfahrung gebraucht, um die zu werden, die ich heute bin.

 

Und es geht weiter. Ich bin gespannt, wie es weiter geht, welche Erkenntnisse, Entwicklungsschritte und Lernchancen noch auf mich warten … welche Glücksmomente und schwierigen Erlebnisse … ich genieße die Gegenwart bewusst und stelle mich ihren Herausforderungen … ich bin gespannt auf das Leben …  und die Zukunft!!

 

Ich wünsche euch ganz viel Widerstandsfähigkeit, Fantasie und Ausdauer, um euren Stimmen mutig und entschlossen gegenübertreten zu können und die Unzerstörbarkeit eurer Schönheit immer im Auge behalten zu können. Ich weiß, ab und zu scheint alles düster und man vergisst nur zu leicht, wie bereichernd und toll das Leben auch sein kann, man hat Angst, dass die Dunkelheit für immer bleibt.

 

Doch kein Gefühl oder Zustand ist in Stein gemeißelt, sondern es ist alles beweglich und allzeit veränderlich. Dass wir das Vertrauen in diesen Umstand so oft wie möglich spüren, das wünsche ich uns wirklich.

Alles Liebe und Heilende!!!

 

 

Barbara Koller

 

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